Aufbau einer eigenen digitalen Reichweite als Reaktion gegen drohende Werberestriktionen

Durch die jüngst bekannt gewordenen Pläne des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL), an Kinder gerichtete Werbung für hochverarbeitete, stark zucker-, fett- oder salzhaltige Lebensmittelprodukte einzuschränken, hängt nun das Damoklesschwert ‚Werberestriktion‘ unmittelbar über den Köpfen von Werbetreibenden auch jenseits der Tabakbranche. Ein Warnruf, den Unternehmen aus allen Bereichen hören sollten, um sich auf ähnliche Szenarien vorzubereiten, zumal laut der „Süddeutsche Zeitung“ mehr als jeder zweite Deutsche sogar ein komplettes Werbeverbot für Bier, Wein und Schnaps befürworte.

Die geforderten Werberestriktionen reichen, je nach Adressaten und Branche, von einer deutlich erwachsenengerechten Tonalität über eine deutliche Kennzeichnung der Risiken, bis zu einem Ausschluss bestimmter Medien und Kontaktpunkte und sogar einem kompletten Werbeverbot. Weitgehend ausgenommen davon ist die individuelle, direkte Kommunikation von Marke zu Konsumenten. Daher kommt diesem unmittelbaren Zugang zum Konsumenten in Form einer 1:1-Beziehung und eines Dialogs auf Basis von individuellen Daten in den Owned Media eine zunehmend größere Bedeutung zu.

Die Tabakbranche macht dabei seit Jahren vor, wie man trotz umfangreicher Werbeeinschränkungen Konsumenten ansprechen und damit Engagement und Bindung schaffen kann. Während zuletzt auch die in Deutschland noch verbliebenen Reichweiten- und Engagement- Kontaktpunkte Out-of-Home-Werbung und Gastro-Promotions inzwischen als Leadgenerierungskanäle weggefallen sind, haben die Tabakkonzerne die Zeit genutzt und eigene Datenbanken mit einer hohen Reichweite aufgebaut, die sie auf der Basis von Marketing Permissions auch weiterhin bespielen können.

Der Aufbau von einer eigenen Reichweite durch Permissions gelingt zum einen über die bloße Stärke von Marken wie Pall Mall, Lucky Strike u. a. sowie jedoch hauptsächlich über das Versprechen von Content und konkreten Mehrwerten. Markenadäquate Benefits wie Festivaltickets, Merchandise, Samples und Gamifications bilden dabei im Sinne eines „Give 2 Get“-Prinzips die stärksten Anreize für die Registrierung der Konsumenten und deren Interaktion mit den jeweiligen Marken sowie für deren Empfehlung per Tell-A-Friend – dem in der Tabakbranche aktuell wichtigsten Instrument, um neue Konsumenten zur Abgabe ihrer Marketing-Einverständniserklärung zu bewegen.

Ein weiterer entscheidender Punkt für den Aufbau der eigenen Konsumentenreichweite ist die Consumer Experience. Im Gegensatz zur Markenstärke und einem Mehrwertversprechen, welche in erster Linie für die initiale Registrierung und die Abgabe einer Marketing-Einverständniserklärung zur Direktkommunikation (über Mobile-App, E-Mail, Messenger, Telefon oder Print-Mail) sorgen, ist die Consumer Experience für einen ubiquitären und einfachen Zugang verantwortlich. Hier spielen die Präsenz und das obligatorische Log-in an allen Kontaktpunkten und Medien durch einheitliche Daten („Single sign-on“), eine einfache Navigierbarkeit der gewünschten Inhalte die zentrale Rolle.

Je mehr Interaktion, desto mehr Daten. Diese ermöglichen wiederum eine Personalisierung von Inhalten, was zu einer höheren individuellen Relevanz und Akzeptanz mit einem höheren Net Promoter Score (NPS) für Weiterempfehlungen führt. Wenn dann neben den digitalen Kontaktpunkten auch noch der POS z. B. durch mobile codebasierte Identifizierungs- und Interaktionstools integriert wird, sind optimale Voraussetzungen für einen regelmäßigen Dialog in den eigenen Medien gegeben.

Einige FMCG-Unternehmen, die werbeverbotsgefährdete Produkte anbieten, bedienen sich bereits dieser Mechanismen. Beobachten lassen sich hier zum einen vereinzelte Aktivitäten von Marken in Gestalt von Kampagnen, Promotions und Gewinnspiele, zum anderen Unternehmen mit dauerhaften und konzertierten Aktivitäten und auch vermehrt Vertreter mit Club- und Konsumentenbindungsprogrammen.

So zeichnen sich v. a. Multimarkenkonzerne, die das Budget für Aufbau und Betrieb die Aktivitäten zum Aufbau einer eigenen Reichweite auf mehrere Marken umlegen können, durch dezidierte Organisationen und Programme für den Aufbau und die Interaktion mit einer eigenen Reichweite aus. Unternehmen wie Ferrero, Mondelez oder L’Oréal betreiben diese Aktivitäten über ihre B2C-Marken hinweg gezielt und auf Basis kurz- und langfristiger KPI. Dabei dienen v. a. saisonale digitale Kampagnen und Promotions, die mit Paid Media unterstützt werden, für die kontinuierliche Generierung neuer Konsumenten in den Datenbanken. Erfolgreiche Beispiele von Ferrero dafür sind die digitale Weihnachtspromotion „Run, Run, Rudi“ von KINDER oder deren alljährliche Oktoberfestpromotion.

Kinder„Run, Run, Rudi“

Noch effektiver in Bezug auf die Generierung und Aktivierung einer digitalen Reichweite sind Konsumentenbindungsprogramme bzw. Kundenclubs, die unter einem zentralen Dach dauerhafte Mehrwerte bündeln und eine engmaschige Programmkommunikation schaffen, die einerseits aktivieren, anderseits weitere individuelle Datenattribute zur Identifizierung von Käufergruppen, deren Produkt- und Kommunikationspräfenzen und anderen Insights generieren sollen.

Ein erfolgreiches Beispiel hierfür liefert das P&G, das mit seinem Programm „for me“ seit Jahren ein komplexes Zusammenspiel aus Content, Mehrwerten, Daten und Personalisierung betreibt und für die verschiedenen P&G-Marken auf der Basis von Kundendaten über eine Programmzeitschrift personalisierte Rabatt- und Test-Coupons als zentrale Mehrwerte an die teilnehmenden Konsumenten ausgespielt.

Aufgrund der Datenbasis und dem Grad der Personalisierung können die P&G-Marken, die das Programm finanzieren, den Return on Invest (ROI) durch die Anzahl und Struktur der eingelösten Coupons nachvollziehen und steuern. Dies erfordert eine Synchronisierung von Know-how, Infrastrukturen und konzeptionellen, kreativen und prozessualen wie organisatorischen Rahmenbedingungen, kann aber gerade für Marken, die eventuelle Werberestriktionen fürchten müssen, ein probates Mittel zur Beibehaltung einer angemessenen Kundenreichweite darstellen.

P&G for me

Die umfangreichen First-Party-Daten, die im Rahmen dieser Aktivitäten gewonnen werden, können jedoch nicht nur zur Aktivierung der bestehenden Konsumenten verwendet werden, sondern auch für das Paid Media und das Programmtic Buying, sei es durch Zwillingsbildung oder Black Listing. Dabei werden auf Basis von beschreibenden Daten bestehender Konsumenten, die besonders wertvoll als Käufer oder Empfehler sind, Anforderungsprofile an die zu targeten User im Paid Media Bereich gestellt, um so die Effektivität und Effizienz des Paid Media-Ansatzes innerhalb des Online Marketing zu optimieren.

Immer mehr Werbebudgets, welche in der Vergangenheit v. a. in ATL-Maßnahmen investiert wurden, fließen so inzwischen in digitale Kampagnen, Content, Mehrwerte, CRM sowie einen entsprechenden Betrieb aus Analytics und einer Tool- und Automationsinfrastruktur. Letztlich auch, um von Werberestriktionen möglichst unberührt zu bleiben, indem eine Reichweite über eigene Medien geschaffen wird, mit der Möglichkeit, Kunden auf Datenbasis personalisierte, individuelle Inhalte auszuspielen und – im Falle eines gesetzlichen Banns von Paid Media – weiterhin ansprechen zu können.

Im Folgenden werden die zentralen Schritte genannt, die für Marken erforderlich sind, um sich eine eigene digitalen Reichweite aufzubauen:

  1. Definition von Zielen im Sinne von konkreten Key-Performance-Indikatoren (KPI), z. B. die Generierung von 1 Mio. WhatsApp-Abonnenten.
  2. Konzeption von Mehrwerten als Gegenleistung für die Registrierung und Datenabgabe der Konsumenten.
  3. Definition der Kernzielgruppen auf Datenattributsebene, um ein effektives Targeting und einen Abgleich mit Käufersegmenten sicherzustellen.
  4. Erfassen der Consumer Journey mit einzelnen Kontaktpunkten.
  5. Anpassung der Kontaktpunkte (insbes. digital), damit Konsumenten sich identifizieren können und der Wer-betreibende tracken und analysieren kann.
  6. Entwicklung eines Consumer-Lifecycle-Modells, das sicherstellt, dass der individuelle Konsument auf Basis seiner Daten zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Kontaktpunkt den richtigen Content und Mehrwert erhält.
  7. Definition von phasen- und segmentspezifischen Zielen und KPI.
  8. Aufbau von Kommunikationsstreams, der Marken-, Produkt-, Programm-, Lifecycle-Content und Triggered-Content enthält.
  9. Aufbau einer Daten- und Kampagnenautomationsinfrastruktur.
  10. Definition von Kampagnen- und Reportingprozessen.
  11. Aufbau einer Programmorganisation mit Schnittstellen zu allen relevanten internen Stakeholdern wie Brand Management, Social Media, Paid Media etc.
  12. Kontinuierliche Optimierung aller Kampagnen durch A/B-Testing.
  13. Auf- und Ausbau eines digitalen Customer Supports mit entsprechenden Tools, um ein höheres Volumen an Kundenanfragen adäquat betreuen zu können.

Mit der Umsetzung dieser Maßnahmen können Unternehmen, die Gefahr laufen, kurz- oder langfristig von potenziellen Werbeeinschränkungen getroffen zu werden, die notwendigen Voraussetzungen schaffen, diese Einschränkungen mit einer autarken Kundenkommunikation zu umgehen. Daneben stellt dieser Ansatz grundsätzlich für alle Unternehmen die Basis für eine kontaktpunktübergreifende und personalisierte Kommunikation über die komplette Customer Journey hinweg.

André Lutz ist Chief Executive Officer von DEFACTO BE/ONE, Full-Thinking-Agentur, die für Customer Activation und datenbasierte, messbare B2C- und B2B-Kundenerlebnisse an jedem Kontaktpunkt steht. DEFACTO BE/ONE betreut u. a. FMCG-Unternehmen beim Aufbau der eigenen digitalen Reichweite.

DEFACTO BE/ONE relauncht Online-Portal für den GRÄFE UND UNZER Verlag